Können Sie verstehen, dass ich mein Handicap auch als Chance betrachte?

Mein Sommergespräch mit dem Dirigenten Franz Welser-Möst - in Kooperation mit den "Salzburger Nachrichten" - war ein total spannendes und wertvolles Gespräch. Wir beide haben über die „Werthaltung in unserer Gesellschaft“ gesprochen. 

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Wir leben in Zeiten großer Veränderungen. Was gibt den Menschen Orientierung, was verbindet sie?

Franz Welser-Möst: Wir leben in der Zeit der MeToo-Bewegung, aber ich sage immer, wir leben in einer MeMe-Zeit. Auf den anderen einzugehen, dem anderen zuzuhören, das gibt es immer weniger. Man braucht sich nur die Leute im öffentlichen Raum ansehen: Alle sitzen mit ihrem Handy da und sind nur mit sich selbst beschäftigt. Meiner Meinung nach wird auch die Demokratie dadurch untergraben. Jeder kann sich im Internet zu jedem Thema und zu jeder Zeit verbal übergeben. Diese Parallelwelt stellt eine potenzielle Gefahr für unsere Staatsform dar. In dieser Zeit der permanenten Aufgeregtheit ist das Miteinander ein bisschen schwieriger geworden.

Und was verbindet uns Menschen?

Immer weniger. Wir leben in einer regelrechten Spaßgesellschaft. Und dieses Spaßhaben bedeutet ja eine unheimliche Portion Egoismus. Das ist eine große Krankheit unserer Zeit geworden. Ich denke, der Code dafür, wie wir uns den anderen gegenüber verhalten, ist teilweise zerbröselt.

Was gibt uns in dieser aufgeregten Zeit noch Halt? Wo können wir uns anlehnen?

In dieser Zeit der totalen Ablenkung muss man sich rausnehmen und Entschleunigung suchen, sonst ist man im Hamsterrad gefangen und verliert sich selbst dabei. Ich gehe gerne auf den Berg oder raus in die Natur. Ich glaube, wachsen kann man als Mensch nur, wenn man weiß, wer man ist, und Zeit mit sich selbst verbringt. Das empfinde ich als wahnsinnig wichtig.

Ist zivilcouragiertes Handeln heute besonders wichtig - und wenn ja, warum?

Jede Zeit braucht Zivilcourage. Wenn es in der NS-Zeit keine Leute gegeben hätte, die Zivilcourage gezeigt hätten, wären viele Einzelschicksale anders ausgegangen. Heute, da sich jeder ein bisschen zurückzieht, reden wir nicht mehr wirklich miteinander. Ich empfinde das als Bedrohung für unsere Spezies. Es ist teilweise erschreckend, was mit der Weiterentwicklung der künstlichen Intelligenz in den nächsten Jahren auf uns zukommen wird.

Zum Beispiel?

Meiner Überzeugung nach wird es für Filmmusik in etwa 15 Jahren keinen Komponisten und keinen Musiker mehr brauchen.

Und gepflegt werden wir von Robotern.

Ja, obwohl ich finde, eine gewisse technische Hilfe ist schon gut. Aber wenn wir darüber hinaus vergessen, dass wir Menschen sind und dass wir nicht allein auf dem Planeten leben, dann geben wir uns selbst auf. Im Moment ist es so, als bahnte sich ein Unwetter an und wir isolieren uns. Nicht nur die einzelnen Länder und Gesellschaften, sondern auch die einzelnen Menschen.

Sie bezeichnen Beethoven als "Weltumarmer". Warum?

Beethoven war der Erste in der klassischen Musik, der den Anspruch gestellt hat, dass sein Publikum nicht nur zuhört, sondern sich innerlich engagiert. Er vertrat das Ideal des Zustands der kollektiven und individuellen Freiheit und Brüderlichkeit - also frei zu leben in der Gemeinschaft mit den anderen. Ich finde diese Botschaft sehr modern. Meine Freiheit endet dort, wo die des anderen beginnt, nur so ist ein Zusammenleben möglich. Das kann man auch von der Musik lernen: Musik ist ein Geben und Nehmen, ein Austausch und keine Einbahnstraße.

Nach einem Autounfall mit 18 Jahren mussten Sie Ihre Pläne für eine Karriere als Geiger aufgeben. Wie haben Sie sich schließlich motiviert, einen anderen Weg zu gehen?

Ich muss sagen, dass mich der Unfall selbst am meisten motiviert hat. Ich habe bis dahin ein sehr unbeschwertes Leben geführt. Plötzlich liegt man auf der Intensivstation und denkt sich: Das hätte auch ganz anders ausgehen können. Man kommt an eine Kreuzung und auf einmal geht es in eine ganz andere Richtung. Das hat nicht nur berufliche Veränderungen mit sich gebracht, sondern auch in der Persönlichkeit Spuren hinterlassen.

Können Sie verstehen, dass ich mein Handicap auch als Chance betrachte?

Ja, ich sehe jede Herausforderung als Chance. Ich versuche das auch im Alltag zu leben. Wenn in einer Probe etwas schiefgeht, können wir etwas davon lernen. Letztendlich habe ich die Einstellung: An dem Tag, an dem ich aufhöre zu lernen, bin ich tot. Aber unsere Gesellschaft wird immer infantiler. Wo ist der Appetit auf Herausforderung? Man reduziert sich ja selbst, wenn man das Schwierige scheut. Selbst wenn man scheitert, ist es etwas sehr Befriedigendes.

Wie haben Sie gelernt, auf sich selbst zu schauen und das Leben zu genießen?

Durch meinen Unfall habe ich gelernt, dass Disziplin ein wunderbares Handwerkszeug sein kann, um sein Leben erfüllend zu gestalten. Das Leben zu genießen bedeutet aber auch ganz wesentlich, Schönes wahrnehmen zu können. Das kann ein Glas Wein sein, Kunst, die Natur, ein anderer Mensch, das können viele verschiedene Dinge sein.

Wenn das Leben auf dieser Welt vorbei ist, was ist dann? Was glauben Sie?

Ich weiß es nicht.

Beschäftigt Sie das?

Natürlich, jeder Mensch muss sich mit dem Tod auseinandersetzen. Aber ich lasse mich in meinem Leben nicht durch Versprechungen oder Aussichten auf etwas, was danach sein könnte, vertrösten. Ich versuche mein Leben nach dem Motto "Carpe diem" zu führen - nütze den Tag, und zwar wofür du da bist. Ich habe dieses Talent und ich empfinde es aus meinem humanistischen Glauben heraus als Aufgabe, damit nicht nur für mich, sondern für die Gemeinschaft etwas zu tun. Die Entstehung einer Oper beispielsweise ist ein Gesamtkunstwerk. Einer allein kann das nicht schaffen.

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Quelle: https://www.sn.at/panorama/oesterreich/video-was-im-leben-zaehlt-74233267#login © Salzburger Nachrichten VerlagsgesmbH & Co KG 2019.

NOTIERT VON SIMONA PINWINKLER.